Wahrheit ist nicht Bindung, die fesselt, vielmehr Ver-Bindung, die stärkt

7. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr C; Apg 7, 55–60; Joh 17, 20–26)

Die Lesung aus der Apostelgeschichte und das heutige Evangelium lassen sich — wenn auch zugegebenermaßen etwas vereinfachend — auf zwei Begriffe bringen, die es in unserer Gesellschaft insgesamt, aber auch in unserer Kirche schwer haben. Stefanus stirbt um der Wahrheit des Glaubens willen, Jesus betet um die Einheit der Seinen. Wahrheit und Einheit — das scheinen irgendwie zwei Denkmäler aus vergangenen Zeiten zu sein, mit denen niemand mehr so recht etwas anfangen kann, und das in einer Zeit, die Denkmäler gern stürzt. Gewiss redet man heutzutage auch mal von Einheit, aber niemals ohne von Einheit in der Vielfalt zu sprechen, denn auf letztere kommt es doch an. Gewiss redet man auch mal von Wahrheit, aber praktisch nie ohne anzufügen, dass jeder seine Wahrheit habe, dass Wahrheit immer etwas Subjektives, also Persönliches sei. Braucht es also noch Wahrheit und Einheit, wie die beiden Bibeltexte nahezulegen scheinen? Gibt es vielleicht sogar Wahrheit in der Einheit — oder Einheit in Wahrheit?

Mir scheint — offen gesagt — diese Distanz zu Wahrheit und Einheit ein Schönwetter-Glaube zu sein, der in Krisenzeiten nicht trägt. Warum? Stellen Sie sich vor, jemand erzählt Unwahres über Sie, macht Sie bei allen möglichen Leuten schlecht, vielleicht sogar bei Ihrem Arbeitgeber. Was ist Ihre natürliche Reaktion? Sie möchten, dass alle die Wahrheit kennen, zumindest Ihr Arbeitgeber und die Menschen, die Ihnen wichtig sind. Sie möchten sich natürlich nicht verleumden lassen! Und Sie möchten, dass sich möglichst alle einig sind in der Zurückweisung solcher Anschuldigungen. Kurz gesagt: Sie möchten Einheit in der Wahrheit. Was im persönlichen Bereich gilt, gilt natürlich auch für die große Bühne der Weltpolitik. Auch die Ukraine setzt sich mit allen Mitteln dafür ein — und das Internet gibt ihr Mittel, die es früher nicht gab —, um möglichst alle Staaten der Welt davon zu überzeugen, den Angriffskrieg gegen sie nicht zu ignorieren und eben nicht der russischen Propaganda zu folgen. Kurz gesagt: Auch sie will Einheit in der Wahrheit.

Ein anderes Beispiel: Ein Mensch bekommt eine Krebsdiagnose. Die Chancen stehen nicht besonders gut, aber er gibt den Kampf nicht auf. Was wünscht er sich — außer der medizinischen Behandlung? Dass die Menschen, die ihm wichtig sind, wissen, wie es um ihn steht, und sie ihm geeint zur Seite stehen. Kurz gesagt: er wünscht sich Einheit in der Wahrheit. In schwierigen Zeiten kann sich der Mensch nicht mit Floskeln zufrieden geben. Gewiss ist da etwas Wahres dran, jede vernünftige Einheit muss eine Einheit auch in Vielfalt sein, aber es ist eben auch eine Floskel, die so weit und so wenig konkret ist, dass jeder zustimmen kann. Wenn es hart auf hart kommt, wenn es eng und grundsätzlich wird, wünscht der Mensch sich Einheit in der Wahrheit.

Eng und grundsätzlich wird es auch in den angesprochenen Bibeltexten. Stefanus verkündet Jesus als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung und als Auferstandenen zur Rechten Gottes und zieht sich so den Unmut einiger aus dem jüdischen Volk zu. Doch er lässt nicht nach, weicht nicht zurück und bezahlt mit seinem Leben. Jesus begegnet uns in der Überlieferung des Johannes-Evangeliums am Vorabend seines Todes, kurz vor seiner Verhaftung, als er um die Einheit derer, die an ihn glauben, betet. Aber hätten beide nicht das Unglück abwenden können, wenn sie nicht so stur an ihren Überzeugungen festgehalten hätten? Hätten Sie nicht in dem Moment Einheit über Wahrheit stellen sollen? Schauen wir genau auf die Beziehung zwischen Einheit und Wahrheit. Wirkliche, eben wahrhaftige Einheit kann es doch nur in der Wahrheit geben, eine Einheit, die auf Unwahrheit beruht, ist doch nur eine Täuschung, eine scheinbare Einheit, die sozusagen eine Sollbruchstelle hat — wenn nämlich die Wahrheit herauskommt, dass man beispielsweise den anderen betrogen und hintergangen hat. Wahrheit zielt auf Einheit, es gehört zu ihrem Wesen, dass sie gewissermaßen alle einschließen will, wie die obigen Beispiele gezeigt haben. Man will eben nicht, dass jemand die falschen Anschuldigungen glaubt! Wahrheit zielt auf Einheit, aber sie ist auch ohne Einheit wahr. Deshalb haben Stefanus und Jesus in der jeweiligen zugespitzten Situation die Wahrheit über die Einheit gestellt. Die Wahrheit darf nicht einfach um der Einheit willen vernachlässigt werden. Gewiss ist Wahrheit nicht einfach ein fertiger Block, der vom Himmel fällt, nicht einfach eine Sammlung von Sätzen, die man den anderen um die Ohren hauen kann. Die Kirche hat sich zu oft auf solche Vereinfachungen eingelassen, weil sie sich verteidigen musste oder glaubte sich verteidigen zu müssen. Die Wahrheit ist nach unserem Glauben Jesus Christus, der nie einfach zu fassen ist. Zur Wahrheit gehört immer auch die Suche nach der tieferen Wahrheit, die Sehnsucht nach der Einheit. Wahrheit ist kein Kampfbegriff, um anderen zu schaden. Und doch darf die Wahrheit nicht einfach um der Einheit willen vernachlässigt werden.

Dies gilt gerade auch für unsere Kirche, die sich in schwierigen Fahrwassern befindet. Nicht nur das heutige Evangelium spricht von der Einheit, auch die Jüngergemeinschaft, die Jesus zusammenführt, legt von ihr Zeugnis ab, aber es ist eine Einheit in der Wahrheit, eine Einheit in Christus, in seiner Botschaft. Die Einheit der Kirche kann nicht in einer beliebigen Vielfalt bestehen, sondern in der gemeinsamen Suche nach der tieferen Wahrheit, danach, Christus immer besser zu verstehen. Wir sehen — so mein Eindruck — Wahrheit zu oft nur als Bindung, als etwas das, fesselt, sie ist aber vor allem Ver-Bindung. Wirkliche Gemeinschaft, wirkliche Einheit kann es ohne sie nicht geben. Wahrheit ist Verbindung, die zusammenführt, stärkt, ein Band der Einheit bildet.

Wahrheit und Einheit sind heutzutage Begriffe, mit denen man sich eher schwer tut, jedenfalls in solcher Klarheit, ohne sie gleich zu relativieren. Doch in Krisenzeiten, wenn es eng und grundsätzlich wird, wünscht man sich doch Einheit in der Wahrheit. Keiner soll eben falsche Anschuldigungen gegen mich glauben! Wirkliche Einheit gibt es letztlich nicht ohne Wahrheit, Wahrheit zielt auf Einheit, ist aber letztlich auch ohne sie wahr. Darum darf die Wahrheit nicht einfach um der Einheit willen vernachlässigt werden. Wahrheit ist keine Fessel, nicht einfach nur Bindung, sie ist Ver-Bindung, die zusammenführt und stärkt. Bitten wir in diesen Tagen den Heiligen Geist, dass er uns Einheit in der Wahrheit schenken möge.