Die schlechteste christliche Welt ist mir lieber als die beste nichtchristliche

8. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 6, 39-45)

Manchmal sind es die eigenen Worte, die einen Menschen richten. Die Worte Jesu, die wir gehört haben, waren wohl gegen die Pharisäer und die Schriftgelehrten seiner Zeit gerichtet. Jesus erkannte — zumindest in manchen von ihnen — Heuchler, die das Volk in die falsche Richtung führen, so als wolle ein Blinder einen anderen führen. Doch hat der Evangelist uns nicht einen Bärendienst erwiesen, indem er diese Worte überliefert hat? Zweifellos wird mancher Kritiker des Christentums darauf hinweisen, dass das Christentum selbst ein schlechter Baum ist, weil es über die zwei Jahrtausende seiner Existenz viel Schlechtes gebracht hat. Was entgegnen wir also? Ist das Christentum ein solcher schlechter Baum?

Auf den ersten Blick mag man stocken — vor allem, wenn man das Jesus-Wort vom Balken und vom Splitter ernst nimmt. Bevor man auf d i e Kirche oder d a s Christentum zeigt, sollte man doch bei sich selbst beginnen, ob sich da nicht auch ein Splitter findet — oder am Ende gar ein Balken. Haben wir nicht alle — wenn man so sagen will — gemischte Ergebnisse? Mir fällt ein Gebet ein, das bekennt: Wir sind weder ganz gut noch ganz schlecht. Wie soll man da das Jesus-Wort umsetzen, da wir doch alle irgendwie gute und schlechte Taten vorzuweisen haben? Sehen wir noch einmal genau auf das Bild, das Jesus verwendet. Es geht nicht darum, dass ein Baum auch einmal faule Früchte trägt oder dass in einem schlechten Jahr die Ernte ganz oder beinahe ausfällt, sondern es geht um das Wesen des Baums selbst. Von einem Dornenstrauch erntet man nunmal keine Trauben, von einer Distel keine Feigen. Wenn wir also auf das Christentum schauen, geht es nicht darum, ob hier auch Schlechtes geschehen ist, was ja ohne Zweifel der Fall ist, sondern es geht darum, was es grundsätzlich ist — im Bild gesprochen: ob es grundsätzlich ein Baum ist, an dem gute Früchte wachsen können oder nicht, ob es ein Gewächs ist, an dem Feigen und Trauben wachsen können.

Wenn wir so über das Christentum nachdenken, fällt mir Heinrich Böll ein. Böll war im Nachkriegsdeutschland ein bedeutender Schriftsteller, der auch den Literaturnobelpreis bekam. Böll war für seine streitbaren politischen Äußerungen bekannt. Er wuchs als Katholik auf, wurde aber einer der schärfsten Kritiker der katholischen Kirche, ist also aller Rücksichtnahme in diesem Zusammenhang völlig unverdächtig. Und doch bezeichnete er — als er einmal gefragt wurde — eine Welt ohne Christus als Albtraum. Er wolle lieber in der allerschlechtesten christlichen Welt leben als in der besten heidnischen, also nichtchristlichen, denn in der christlichen Welt gibt es immer noch Raum für Alte, Schwache und Kranke, so Böll. Ich glaube, damit ist schon Wesentliches gesagt. Es ist das Christentum, das die Würde des Menschen ins Bewusstsein gebracht hat— auch wenn er hilfsbedürftig ist, weil er beispielsweise alt oder auch ein Kind ist. Wir brauchen nur auf Gesellschaften zu schauen, die nicht vom Christentum geprägt wurden — wie anders ist deren Menschenbild! Oder schauen wir auf unsere Gesellschaft, wie sich deren Menschenbild wandelt, da das Christentum seine Prägekraft verliert. Und auch vieles, was man dem Christentum aus seiner Geschichte vorwirft, ist längst nicht so schwarz-weiß, wie es behauptet wird. Die Hexenverfolgung wurzelte beispielsweise in vorchristlichen Vorstellungen, denen die Kirche deutlich widersprach. Verurteilungen wurden von weltlichen Gerichten ausgesprochen, nicht von kirchlichen. Gewiss waren auch Geistliche an diesen Prozessen beteiligt, aber es war ein Geistlicher, der Jesuit Friedrich Spee, der es schaffte, dem Hexenwahn ein Ende zu setzen. Ein Beispiel dafür, dass auch die geschichtlichen Zusammenhänge nicht immer so einfach sind, wie man manchmal behauptet.

Doch schauen wir noch einmal genauer hin auf das Wesen des Christentums. Manchmal ist es auch — gerade im persönlichen Bereich — gar nicht so einfach, zu bestimmen, was nun die gute Frucht ist, die man in einer Religion sucht. Wohlbefinden, Trost? Die Worte Jesu sind — man denke an den letzten Sonntag — oft sehr herausfordernd. Von Wohlbefinden kann da keine Rede sein. Dem Christentum geht es nicht um Wohlbefinden, sondern um das Heil des Menschen. Das ist keine Vertröstung aufs Jenseits, auch das wurde und wird gelegentlich missverstanden, sondern stiftet Sinn schon in dieser Welt. Dem Leben Sinn geben, was heißt das? Es heißt, sich herabzulassen, ohne herablassend zu sein, sich einzulassen — auf diese Welt, auf Aufgaben, die sich mir stellen, auf Menschen, die mir begegnen. Es heißt, von dem zu geben, was ich habe, aber vor allem von dem, was ich bin, um zu prägen: Menschen, Situationen, Aufgaben, so dass andere Menschen Hilfe, Unterstützung und Ermutigung finden können, letztlich in der Lage sind, ihrem Leben selbst Sinn zu geben. Ist es nicht das, was wir in besonderer Weise im christlichen Glauben erleben? Herablassen, ohne herablassend zu sein, sich einlassen, sich stellen, prägen, ermutigen: es scheint, als sei das die Beschreibung der Menschwerdung Gottes. Er ließ sich herab, ohne herablassend zu sein, ließ sich ein mit uns Menschen, er prägte Menschen, er gab von sich, damit Menschen Ermutigung finden, damit Menschen Sinn in ihrem Leben finden — und Heil. Und er tut all das bis heute. Wo gibt es das sonst? Den sich einlassenden Gott, den begegnenden, prägenden Gott? Ganz persönlich, ganz menschlich? Nirgends.

Wenn wir uns also fragen, ob das Christentum ein guter Baum ist, ist die Antwort vielleicht doch leichter als gedacht. Gewiss haben wir alle immer gemischte Ergebnisse, aber es geht letztlich im Bild Jesu um die Natur des Baums: Ist es einer, der gute Früchte bringen kann? Am besten finde ich immer noch die Zusammenfassung Heinrich Bölls: Die schlechteste christliche Welt ist mir lieber als die beste nichtchristliche, denn in ihr ist Raum für die Schwachen. Der christliche Glaube will Heil bringen, das in dieser Welt Sinn für unser Leben stiftet. Sinn stiften heißt doch, sich einzulassen, von sich zu geben, damit andere Ermutigung finden und selbst ihrem Leben Sinn geben können. Das ist das Wesen des menschgewordenen Gottes, der sich ganz auf uns eingelassen hat. Durch ihn können auch wir gute Früchte bringen.