Die Zeichen der Zeit sind Fragen an das Evangelium, die wir beantworten müssen

Kirchweih (1 Petr 2,4-9; Joh 4, 19-24)

„Gaudet Mater Ecclesia!“ Es jubelt die Mutter Kirche! So begann vor fast auf den Tag genau 60 Jahren Papst Johannes XXIII. seine Rede zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils. Vom Jubel und der Aufbruchstimmung jener Tage ist nicht allzu viel geblieben — vorsichtig gesagt. Papst Johannes gab den Konzilsvätern den Auftrag den Glauben für die heutige Zeit neu zu sagen, an anderer Stelle nannte er das Aggiornamento, Verheutigung des Glaubens. Das Konzil wollte die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten. Ganz offensichtlich ist das bis heute eine Aufgabe geblieben, die uns unter den Nägeln brennt. „Ihr aber seid … ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“, so haben wir es in der neutestamentlichen Lesung gehört. Wie kann es gelingen, „die großen Taten“ Gottes, den Glauben für die heutige Zeit zu verkünden und die Zeichen der Zeit zu verstehen?

„Die Zeichen der Zeit“ sind ein Begriff aus dem Evangelium, der vom Konzil selbst verwendet wird und auch in der späteren Deutung des Konzils bis heute immer wieder auftaucht. Gemeint sind sozusagen die Kenn-Zeichen einer bestimmten Zeit, die wir im Licht des Evangeliums deuten müssen, so wird das Evangelium für die jeweilige Zeit verständlich. Solche Kenn-Zeichen unserer Zeit sind wahrscheinlich die wachsende Bedeutung der Freiheit, der Individualismus und die zunehmende Vielfalt in allen Lebensbereichen. Diese Kenn-Zeichen der Zeit zu deuten wirft auch Licht auf das Evangelium und hilft uns dieses besser zu verstehen. So weit, so gut. Doch was heißt das konkret? Hier fängt das Problem an: die einen rufen, das ist Verrat an der Tradition und Anpassung an den Zeitgeist, die anderen, das heißt sich in den Bunker einzusperren und eben nicht auf die Zeichen der Zeit zu antworten. Was sollen wir also tun?

Ich gebe zu, so notwendig die Frage ist, so klar ist auch, dass sie in unserem Zusammenhang nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Ich kann nur versuchen einen Anstoß zu geben. Mir scheint, dass die Zeichen der Zeit nicht einfach Wegweiser sind, sondern Fragen, die an das Evangelium gerichtet werden und die wir als Kirche zu beantworten haben. Beispielsweise: Was bedeutet es, dass der Einzelne in seiner Unabhängigkeit, in seinen persönlichen Erwartungen immer wichtiger wird? Doch bevor wir versuchen eine solche Frage zu beantworten, müssen wir uns etwas Entscheidendes klar machen. Normalerweise denkt man ja, wer etwas fragt, weiß nichts, deshalb muss er ja fragen. Doch das ist ein großer Irrtum. In jeder Frage steckt immer schon ein Vorwissen. Ein Beispiel: Wenn jemand fragt: Wann und wo fährt der Zug nach München ab?, dann weiß er sehr viel. Er weiß, dass es überhaupt eine Eisenbahn gibt, er weiß, dass es Bahnhöfe gibt und auch einen Fahrplan. Vielleicht weiß er sogar, dass von diesem Ort ein Zug nach München fährt. In jeder Frage steckt immer auch Vorwissen. Wenn wir also die Zeichen der Zeit als Frage an das Evangelium verstehen, müssen wir auch das Vorwissen ernst nehmen, dass in der Frage steckt. Wenn also die Bedeutung des Einzelnen als Zeichen der Zeit zur Frage an das Evangelium wird, dann steckt darin wohl auch die Erfahrung einer Befreiung: dass der Einzelne nicht nur ein Rädchen im Getriebe ist, der sich nach den Vorgaben anderer entwickeln muss, dass der Einzelne seinen eigenen Weg gehen darf, der seinen Möglichkeiten und Neigungen entspricht und nicht einfach Gefangener von Tradition und Erwartungen anderer ist. Diese Erfahrung, dieses Vorwissen müssen wir ernst nehmen, um unsere blinden Flecken zu entdecken. Schauen wir so auf das Neue Testament, fällt vielleicht mehr als in vergangenen Zeiten auf, wie oft hier von Freiheit die Rede ist. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, sagt Paulus im Brief an die Galater. Und Jesus nimmt jene Frau am Jakobsbrunnen ernst, die eben nicht nach den Konventionen ihrer Zeit gelebt hat. Das heutige Evangelium gibt nur einen sehr kleinen Abschnitt aus dieser Begegnung wieder. Schon allein das Gespräch Jesu mit dieser Frau widersprach der Konvention. Und gerade sie wird zur Zeugin für ihn. Wenn wir die Zeichen der Zeit als Anfrage an das Evangelium verstehen, dann müssen wir auch das in der Frage steckende Vorwissen, die darin steckende Erfahrung als Anstoß ernst nehmen.

Das bedeutet jedoch auch, die jeweilige Erfahrung gegen den Strich zu bürsten und so d e r e n blinde Flecken zu entdecken. Ist diese Befreiung, die der Einzelne in unserer Zeit im Vergleich zu früheren Zeiten erleben darf, nicht auch eine Belastung? Wie soll ein gedeihliches Miteinander funktionieren, wenn jeder immer mehr oder gar ausschließlich auf sich selbst schaut? Muss ich letztlich nicht sogar um meiner selbst willen ein Interesse an der Gemeinschaft haben, die ich doch auch brauche? Die Erfahrung, das Vorwissen, das in den Zeichen der Zeit steckt, muss auch kritisiert, gewissermaßen gegen den Strich gebürstet werden.

Für die Individualisierung als Kenn-Zeichen unserer Zeit heißt das, dass wir die unbedingte Würde jedes Einzelnen, den Respekt vor seinen Talenten als Teil des Evangeliums, der gerade in unserer Zeit von Bedeutung ist, erkennen und bezeugen. In nicht vom Christentum geprägten Kulturen kennt man diese Würde so nicht. Es bedeutet aber auch, dass Talente ihre Kraft entfalten, wenn wir sie als Geschenk Gottes annehmen und wenn wir erkennen, dass — wie Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther einmal sagt — die Talente um der Stärkung der Gemeinschaft willen gegeben sind. Auch die Freiheit des Einzelnen hat immer eine gemeinschaftliche Dimension.

Es bleibt unsere Berufung, als Volk Gottes seine großen Taten zu verkünden, indem wir immer neu die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten. Dies ist eine bleibende Herausforderung. Die Zeichen der Zeit sind meines Erachtens Fragen an das Evangelium, die wir als Kirche zu beantworten haben. Dabei müssen wir beachten, dass in jeder Frage auch ein Vorwissen, eine Erfahrung steckt. Diese müssen wir als Anstoß ernst nehmen und so auch unsere blinden Flecken erkennen. Diese Erfahrung ernst zu nehmen heißt auch sie gegen den Strich zu bürsten, i h r e blinden Flecken wahrzunehmen. So ist die Verkündung des Glaubens bleibend ein Suchen und ein Sich-Vorantasten. Möge der Herr uns auf diesem Wege begleiten!