„Wir gesucht — was hält uns zusammen?“

St. Martin 2022 (Joh 15, 9-17)

„Wir gesucht — was hält uns zusammen?“ So nennt die ARD ihre diesjährige Themenwoche. Ein bisschen sucht hier wohl der öffentlich rechtliche Rundfunk, der in die Krise geraten ist, seine eigene Existenz zu rechtfertigen, indem er ein aktuelles Thema aufgreift. Und wer wollte bestreiten, dass dieses Thema aktuell ist?! Als ich zum ersten Mal von dieser Themenwoche „Was hält uns zusammen?“ hörte, wurde direkt danach eine Sendung mit dem Titel „Glauben“ angekündigt, und — man wird es mir als Pfarrer nachsehen — ich dachte, da habt ihr eure Antwort. Nun ja, mir ist auch klar, dass dies nicht so einfach ist, weil vielen in unserer Gesellschaft Religion insgesamt und vor allem der christliche Glaube nichts oder wenig bedeuten, doch gleichzeitig ist ja offensichtlich, dass es nicht gelingt nach dem Abschied von der Religion genug Gemeinschaftsstiftendes zu finden, deshalb sei an dieser Stelle die Frage gestattet, ob es nicht doch einsichtig zu machen ist, dass Glaube etwas zum Zusammenhalt beitragen kann — auch unter den Bedingungen unserer Zeit?!

Klar, wir feiern den heiligen Martin, der immer noch einer der bekanntesten Heiligen ist, eine pädagogisch ungeheuer wertvolle, ja unverzichtbare Kraft, die den Kindern den Wert des Teilens beibringt. Solidarität und Hilfsbereitschaft als Grundlage des Zusammenhalts, so hat man Martin seines religiösen „Mantels“ gänzlich beraubt — das Bild bei gestattet —, um auch Nicht-Religiösen vermittelbar zu sein, alles ganz wunderbar, doch so recht scheint die Botschaft nicht zu greifen. Stattdessen haben kluge Denker im letzten Jahrhundert einmal versucht nicht ohne, sondern aus dem christlichen Glauben heraus Anstöße für eine gerechte gesellschaftliche Ordnung zu formulieren: Die Würde des einzelnen Menschen ist unantastbar — ja, das Grundgesetz hat von diesen Denkern gelernt —, das heißt, dass jede gesellschaftliche Ordnung dem Einzelnen dienen muss, der Einzelne kein Verrechnungsobjekt ist nach dem Motto: Hauptsache, es geht der Mehrheit gut. Dies bedeutet aber auch, dass der Einzelne nicht in einen Aktivismus von rechts oder links gezogen wird, wie er in unserer Gesellschaft zunehmend zu beobachten ist.

Doch sehen wir noch ein wenig genauer hin, das Evangelium gibt uns da einen klaren Anstoß. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“, sagt Jesus. Hier begegnet er uns am Vorabend seines Todes und natürlich sind diese Worte auf seinen nahenden Tod bezogen. Doch hierin steckt eine weitergehende Wahrheit. Wir alle sind auf Gemeinschaft bezogen, werden nur wir selbst, indem wir die Möglichkeiten der Gemeinschaft nutzen, auch indem wir uns mit ihr auseinandersetzen. Doch Gemeinschaft bedeutet, dass wir Menschen immer wieder über uns hinauswachsen. Anders funktioniert es nicht. Denken wir an die kleinste und ursprünglichste Gemeinschaft, die Familie. Ich wage das zu sagen, auch wenn ich keine Kinder habe und Familie eben nur aus der Perspektive des Kindes kenne. Familie setzt voraus, dass die Eltern über sich hinauswachsen, dass sie größere Kräfte entwickeln, als sie vielleicht einmal zu haben glaubten. Eltern müssen in gewissem Sinne sich geben, damit Kinder gut aufwachsen können. Hier ist es gewiss — ein Stück weit, diese Einschränkung muss sein — der Instinkt der Natur, der solches vorgibt. Doch auch in anderen Zusammenhängen gilt eben: Gemeinschaft ist möglich, wenn Menschen von sich geben und über sich hinauswachsen. Und wahrscheinlich hapert es gerade daran in unserer Gesellschaft. Sicher, es gelingt auch oft, sonst wäre Gesellschaft gar nicht mehr möglich, aber ganz offenbar zu selten. Wir sind durchgeschüttelt von Krisen, wir möchten Solidarität und Unterstützung, aber eigentlich möchten wir bei uns bleiben, sind erschöpft, möchten oder können nicht über uns hinauswachsen.

Was hilft dem Menschen über sich hinauszuwachsen? Für viele Menschen ist es ein Ideal, eine gerechtere Welt, eine saubere Umwelt beispielsweise, das sie zu solchem Über-sich-Hinauswachsen anregt und Kräfte freisetzt. Das ist schön, funktioniert für nicht wenige auch, aber für viele auch nicht. Warum? Wenn ein solches Ideal mit einem persönlichen Erlebnis verbunden ist, kann es Kraft entwicklen, sonst eher nicht. Trotzdem ist es auf Dauer meist irgendwie leblos, kalt, fremd und fern. Oft verliert es an Kraft, wenn man älter wird. Es kann auch allzu leicht umformuliert, angepasst werden, so dass es nur noch dem Namen nach bleibt, aber nicht mehr herausfordert. Hier gibt uns das Evangelium nochmal einen Anstoß. „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“, sagt Jesus. Das klingt zunächst fremd, aber es geht eben um mehr als eine menschliche Freundschaft. Jesus, in dem Gott Mensch geworden ist, ist das lebendige Ideal. Er ist eben nicht ein lebloses Ideal, das über uns hängt, er ist der Freund, der tatsächlich mit uns geht und der uns zugleich vorausgeht, der uns zieht. Martin hat den Mantel geteilt, weil er im Armen Jesus Christus erkannte. Wir brauchen ein Ideal das als Freund und Bruder an unserer Seite ist, uns zugleich nach vorn zieht und uns anregt über uns hinauszuwachsen. Das ist Jesus Christus.

Was hält uns also zusammen? Gemeinschaft ist möglich, wenn Menschen immer wieder über sich hinauswachsen. Was treibt sie dazu an? Für manche ist es ein bestimmtes Ideal wie eine gerechtere Welt, doch auf Dauer erweisen sich solche Ideale meist als kalt und fern und sind schnell angepasst. Der Mensch braucht ein Ideal, das ihn gewissermaßen lebendig als Freund und Bruder begleitet, an seiner Seite ist, das ihm aber auch vorausgeht und ihn anspornt über sich hinauszuwachsen. Eben das ist Jesus Christus, der menschgewordene Gott. Kein anderer. „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“, sagt Jesus. Mir ist schon klar, dass nun nicht plötzlich alle in unserer Gesellschaft (wieder) Christen werden. Und doch ist in meinen Augen ebenso klar: Wir werden nichts finden, das uns zusammenhält, wenn wir nicht an etwas Größeres glauben, das mehr ist als ein Ideal, das lebendig ist und uns auch verpflichtet — und das wir als Glaubende Gott nennen. Anders wird es nicht funktionieren. Wir können noch so viele Ideale konstruieren, sie werden uns zwischen den Fingern zerrinnen. Ohne Gott wird es nicht gehen. Nicht umsonst beginnt unser gutes altes Grundgesetz mit den Worten „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“