Das Ende der Neuzeit?

Weihnachten 2022 (Lk 2, 1-14)

„Das Ende der Neuzeit“ — so heißt ein Buch des Theologen und Philosophen Romano Guardini, das vor etwas mehr als siebzig Jahren erschien, und in dem er eine Zeitenwende diagnostizierte. Die Neuzeit mit ihrem kraftvollen Optimismus, mit ihrem Vertrauen in den Einzelnen und seine Möglichkeiten weicht einer neuen, noch namenlosen Epoche. Trifft das nicht unser Zeitgefühl? Nicht umsonst heißt das Wort des Jahres „Zeitenwende“. Seit knapp zehn Jahren scheinen unsere Gewissheiten zu zerbröseln und die Welt wandelt sich mit atemberaubender  Geschwindigkeit. Und was passiert in solcher Hektik beinahe zwangsläufig? Wir driften auseinander, jeder hält sich an etwas anderem fest, macht andere Gründe für den Wandel aus, erkennt ein anderes Ziel dabei. Auch Weihnachten verliert seine Bindekraft, ist für immer weniger Menschen noch d a s Ritual, das beruhigt, weil immerhin etwas noch so ist wie früher. Aber vielleicht ist Weihnachten mehr als ein zahn- und kraftloses Ritual, vielleicht gibt es das Fest schon so lange, weil es tatsächlich eine Botschaft hat? Inmitten des Umbruchs, des Wandels, der Spaltung — was hat uns Weihnachten zu sagen?

Weihnachten ist das Fest der Menschwerdung Gottes, er tritt ein in diese Welt als einer von uns. Aber welche Welt begegnet ihm, begeht uns heute? Wenn ein Haus baufällig ist und renoviert werden muss, entwickeln die Bewohner meist unterschiedliche Vorstellungen, was geändert und was bewahrt werden muss. Vielleicht ist man sich nicht mal einig, was genau die Baufälligkeit ausgelöst hat, während man vor kurzem noch scheinbar zufrieden in diesem Gebäude gelebt hat. So ähnlich ergeht es unserem Zusammenleben. Unterschiedliche Diagnosen, was denn nun genau falsch läuft, unterschiedliche Ansichten, was das Ziel sein könnte, treiben uns in die seltsamsten Widersprüche hinein. Einerseits will die Gesellschaft vollständige und radikale Freiheit, andererseits natürlich die dringende Verpflichtung zur Solidarität und zum Schutz der Umwelt. Der Mensch ist nichts Besonderes —heißt es —, zugleich hat er eine einzigartige Verantwortung für diese unsere schutzbedürftige Welt. Einerseits wird umfassende Toleranz gefordert, jeder soll endlich so leben können, wie er will, anderseits nimmt die Spaltung eher zu und die zwischen den Gruppierungen herrschende Toleranz eher ab.

Freiheit steht gegen Verpflichtung, der Mensch als höheres Tier gegen seine Verantwortung für die Welt zu sorgen, Toleranz gegen Spaltung — und da helfen „Stille Nacht, heilige Nacht“ und die Kerzen am Baum? Weihnachten ist das Fest der göttlichen Freiheit. Wer hätte je gedacht, dass Gott die Freiheit hat, ein Mensch zu werden? Es geht nicht darum, dass eine Gottheit irgendwie in Menschengestalt erscheint, um was auch immer auf Erden zu tun. Es geht darum, dass Gott schlechthin, der allmächtige Gott, der Grund und Schöpfer allen Seins, ein Mensch wird, ein Kind, das Sorge und Liebe seiner Eltern braucht. Braucht in einem ganz wörtlichen Sinne, denn ein Säugling kann nicht leben ohne die Zuwendung der Erwachsenen. Selbst wenn einer nicht glaubt oder fragend und zweifelnd vor diesem Inhalt des Weihnachtsfests steht, muss er doch einräumen, dass dies — wenn es wahr ist —, die umfassendste und radikalste Freiheit ist: Gott wird Mensch, ein Säugling. Und was ist das Besondere an dieser Freiheit? Sie braucht Sorge und Solidarität, Gott gibt sich in die Hände der Menschen, der Säugling kann ohne die Erwachsenen nicht überleben. Freiheit, ganz radikal gelebt und gedacht, heißt die Sorge und Solidarität der anderen zu brauchen. Wenn Freiheit nicht nur das oberflächliche Getue um den nächsten Urlaub oder das neueste Handy ist, sondern wirklich radikal gedacht und gelebt wird — radikal heißt von der Wurzel her —, dann bedeutet das sich aus dem Fenster zu lehnen, ins Unbekannte vorzustoßen — und das heißt immer auch auf den Beistand der anderen zu setzen. Verstehen Sie mich recht, das muss nicht heißen, ein Entwicklungsprojekt in Afrika zu gründen, es kann auch bedeuten, Hilfe vor meiner Haustür anzustoßen, auch da setze ich darauf, dass andere mittun, helfen, unterstützen. Die Menschwerdung Gottes lehrt uns, dass radikal gelebte und gedachte Freiheit die Solidarität der anderen braucht. Freiheit und die Verpflichtung einander beizustehen müssen Hand in Hand gehen, sonst stirbt Freiheit — oder lebt nur noch als Zerrbild in den Entscheidungen beim „Shopping“.

An Weihnachten braucht der menschgewordene Gott tatsächlich Schutz, Maria und Josef und im weiteren Sinne auch die Hirten geben ihn. Weihnachten lehrt uns, dass es zum innersten Wesenskern des Menschen gehört Schutz zu geben und Schutz zu brauchen. Man könnte auch sagen, Schutz zu geben und zu brauchen gehört zur Würde des Menschen. Gerade die Armseligkeit der Umgebung bezeugt doch, wie tief dies im Menschen verankert ist. Wenn diese Welt Schutz braucht und der Mensch ihn geben soll, muss der Mensch seine Würde bewahren — oder wiederfinden im Stall von Bethlehem.

Gott versetzt sich so ganz wörtlich in uns Menschen hinein. Das ist seine Toleranz, er hört zu, er lebt und leidet an unserer Seite. Toleranz heißt zuzuhören und sich in den anderen hineinzuversetzen — soweit es irgend geht —, wie es Gott uns an Weihnachten lehrt. Tue ich das nicht, hasse ich am Ende nur noch mich selbst und nicht den anderen, den ich gar nicht mehr kenne.

Dieses Zuhören scheint immer weniger zu werden. Jeder geht anders mit der Umbruchszeit um, in der wir leben. Das treibt uns in Widersprüchlichkeiten hinein: Freiheit gegen Verpflichtung, der Mensch als höheres Tier gegen seine Verantwortung für die Welt zu sorgen, Toleranz gegen Spaltung. Weihnachten kann zusammenführen. Die radikale Freiheit, die Gott lebt, indem er Mensch wird, zeigt, dass Freiheit nicht ohne Beistand, ohne Solidarität gelebt werden kann — wenn sie wirklich Freiheit ist und nicht nur Entscheidung, was ich kaufe. Diesen Schutz zu geben und zu beanspruchen gehört zum Wesenskern des Menschen, zu dem, was unantastbar ist: zu seiner Würde. Gott lehrt uns, uns in den anderen hineinzuversetzen, ihm zuzuhören, wie er es in seiner Menschwerdung tut. Tue ich das nicht, hasse ich am Ende nur meine eigenen schlechten Seiten, den anderen kenne ich gar nicht mehr. Weihnachten ist mehr als Lichterglanz und Tannenbaum. Es ist Heilung und Rettung. Es liegt an uns, ob wir sie ergreifen.