Mit der Wahrheit im Gespräch bleiben

31. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A; Mal 1,14b-2,2b.8-10; Mt 23,1-12)

Seit es Religion gibt, gibt es wahrscheinlich auch das Problem, das die biblischen Texte dieses Sonntags beschreiben: Dass Verantwortliche bzw. religiöse Amtsträger dem Anspruch, den sie verkünden, selbst nicht gerecht werden. Inzwischen wird diese Erfahrung von immer mehr Menschen zu einem grundsätzlichen Argument gegen Religion erweitert. „Sieh sie dir doch an, die Pfarrer, die Bischöfe und letztlich alle, die in die Kirche rennen, wirklich christlich leben sie auch nicht“, so heißt es immer wieder. Und ehrlicherweise müssen wir eingestehen, dass diese Sicht der Dinge auch nicht vollkommen falsch ist. Wir sind alles andere als vollkommen, diese Verallgemeinerung darf ich mir wohl erlauben. Was sollen wir also angesichts unserer Unvollkommenheit tun? Dürfen wir eine Wahrheit verkünden, der wir selbst so nicht gerecht werden?

Im Allgemeinen ist man heute ja meist der Ansicht, dass die Verkündigung durch Worte sowieso nicht allzu viel wert ist, das Vor-Leben, die Tat allein zählt. Ich halte das für einen Irrtum — jedenfalls in dieser klaren Einseitigkeit. Gewiss, Worte und Taten gehören zusammen, berühren Menschen, überzeugen Menschen in ihrer Übereinstimmung. Wo jemand nur redet, aber nicht entsprechend handelt, wirkt das alles andere als glaubwürdig. Eben das ist ja der Vorwurf Jesu im Evangelium. Aber es funktioniert eben auch nicht ohne Worte. Menschliches Handeln bleibt immer mehrdeutig, kann so und so aufgefasst werden. Zum Menschen gehört nunmal das Gespräch und auch die Reflexion, also das Nachdenken über sich und sein Handeln — und das geschieht nun einmal in Worten. Was bedeutet es denn, dass Menschen Sonntag für Sonntag in die Kirche gehen? Vielleicht ist ihnen langweilig, vielleicht sind sie es einfach so gewohnt. Wer weiß das schon? Menschliches Handeln ist und bleibt vieldeutig. Erst das Wort, das hinzutritt, macht klar, was geschieht. Ich gehe, weil ich glaube, hier Jesus Christus zu begegnen und durch ihn Gott, der allein der Ewige ist und so Grund meiner Hoffnung, die mich durchs Leben trägt. Verkündigung des Glaubens muss Wort und Tat sein, Tat allein reicht nicht aus. Und gerade da, wo ich scheitere, wo ich hinter dem Anspruch Jesu zurückbleibe, ist es das Wort, das mir Glaubwürdigkeit zurückgeben kann. Indem ich nämlich mein Versagen, meine Schuld eingestehe, kann das meine Glaubwürdigkeit retten. Aber ist das wirklich so? Die Ausgangsfrage ist noch nicht beantwortet: kann ich Wahrheit verkünden, wenn ich ihr selbst nicht gerecht werde?

Ich kann es nur, wenn ich mich selbst von dieser Wahrheit betreffen lasse, wenn ich mich unter sie stelle. Ich kann es nicht von einer quasi erhöhten Position als der Wichtige, der andere zu belehren hat. Ich bin selbst ein Lernender — mit anderen und für andere. So funktioniert Wahrheit — wenn man so sagen darf: ich verstehe etwas, sehe etwas ein, aber das reicht noch nicht. Das Erkannte, Eingesehene muss sozusagen alle Schichten meiner Person erreichen, muss langsam durchsickern. Bei sehr tiefen und entscheidenden Einsichten dauert das ein Leben lang. Wahrscheinlich jeder sagt, er sehe ein, dass Hilfsbereitschaft wichtig ist, aber wer kann ernsthaft behaupten, er setze diese Erkenntnis immer und überall um? Manchmal gibt es Rückschläge, man ist verletzt und mag niemandem mehr helfen. Dann führen neue Erfahrungen wieder zur ursprünglichen Erkenntnis zurück, ohne gegenseitige Hilfe gelingt das Leben doch nicht. Dieses Durchsickern von Erkenntnis ist nichts Automatisches, sondern eben ein echter Lernprozess, zu dem auch Rückschläge gehören. Menschsein heißt nun einmal nach und nach zu wachsen und zu reifen, und das gerade in der Begegnung mit anderen. Die Wahrheit verkünden heißt, andere an diesem Lern- und Reifeprozess teilhaben zu lassen. Lehrender kann ich nur sein — im Großen wie im Kleinen —, wenn ich im auch ein Lernender bin.

Diese Einsichten zeigen uns auch noch etwas über das Wesen der Wahrheit — und das ist gerade in unserer Zeit so wichtig. Ein Grundproblem — vielleicht sogar das Grundproblem schlechthin — ist, dass viele Menschen Glaubenswahrheiten nicht mehr annehmen können, weil ihnen Wahrheit selbst verdächtig erscheint. „Jeder hat halt seine Wahrheit“, heißt es dann. Wo es aber keine Wahrheit gibt, gibt es nicht nur keinen Glauben, sondern letztlich kein Menschsein. Es gibt keine gemeinsame Grundlage mehr, jeder hat seine „eigenen“ Tatsachen, die Vorgänge in der großen Politik erinnern gelegentlich an eine solche Entwicklung. Wahrheit öffnet sich langsam, im Gespräch mit ihr, in einem Lernprozess, der sozusagen durch alle Schichten der Person geht. Das Wesen der Wahrheit besteht also auch im Gespräch. Wo aber ein Gespräch ist, da muss einer sein, der mit mir spricht. Mit einem Stein oder dem Wind kann ich kein Gespräch führen. Das Wesen der Wahrheit, das eben auch im Gespräch besteht, zeigt uns, dass die Wahrheit nicht ein Etwas, sondern ein Jemand ist, ein Gegenüber, das sich uns zuwendet. Das ist unser Glaube: Die Heilige Schrift sagt, dass Jesus Christus selbst die Wahrheit ist.

Zweifel und Skepsis gegenüber Religion treffen längst nicht nur die Amtsträger, sondern alle, die sich ernsthaft zu einer Religion bekennen. Ich muss als Glaubender deshalb die Mahnung des Herrn immer wieder präsent haben. Ich bin nicht ein „Fertiger“, der etwas weitergibt an andere, sondern ein Lernender, der anderen begegnet, der sie teilhaben lässt an seinem Reifeprozess — ja, an seinem Gespräch mit der Wahrheit.

Kann ich also Wahrheit verkünden, wenn ich ihrem Anspruch nicht gerecht werde? Zugespitzt sage ich: ich kann nicht nur, ich muss sogar! Ohne den Anspruch der Wahrheit ist Menschsein nicht möglich, ist jedes Gespräch unglaubwürdig, hat keine Basis. Verkünden kann ich nicht nur durch die Tat, es muss das Wort hinzutreten, menschliches Handeln ist, für sich genommen, vieldeutig. Ich muss mich selbst unter den Anspruch der Wahrheit stellen, bin ein Lernender — mit anderen und für andere. Es reicht nicht etwas zu verstehen, es muss gewissermaßen alle Schichten meiner Person erreichen, das ist ein Prozess, der manchmal ein Leben lang dauert. Ich muss mit der Wahrheit im Gespräch bleiben — wenn man so sagen will. Und das verweist und darauf, dass die Wahrheit im letzten Sinne nicht etwas ist, sondern jemand: Jesus Christus, der menschgewordene Gott.