Demokratische Kirche – ideale Kirche?

4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Joh 10,11-18)

„Ich bin der gute Hirte!“, sagt Jesus Christus, und schon im Neuen Testament wird dieses Bild auf diejenigen übertragen, die im Namen Jesu Verantwortung für die Kirche haben. Am Ende des Johannes-Evangeliums wird beispielsweise Petrus damit beauftragt, die Herde Christi zu weiden. Deshalb begeht die Kirche an diesem Sonntag den Weltgebetstag für geistliche Berufe. In Deutschland ist der Priestermangel mittlerweile so dramatisch, dass manche endlich die Dringlichkeit dieses Anliegens einsehen, denn so ist auch unsere bisherige Gemeindestruktur in Frage gestellt – vorsichtig gesagt. Diese ganz konkrete Not verdeckt m.E. eine letztlich wichtigere Frage: wollen wir eigentlich noch Hirten? Als Glieder einer seit mehr als zwei Generationen demokratisch organisierten Gesellschaft tun wir uns schwer mit diesem Bild, das ja nicht nur Fürsorge, sondern auch Autorität und Leitungsgewalt umfasst. „Eigentlich müsste es doch viel demokratischer in der Kirche zugehen, dann wäre auch alles besser!“, so denken offenbar viele. Brauchen wir also noch Hirten? Oder anders gefragt: muss die Kirche demokratischer werden?

Was den guten Hirten auszeichnet, sagt Jesus im Evangelium ganz eindeutig: er gibt sein Leben für die Schafe, er ist kein bezahlter Knecht, der abhaut, wenn es brenzlig wird. Deshalb ist die eigentliche päpstliche Farbe das Rot, die Farbe des Blutes, das der oberste Hirte bereit sein soll, für seine Herde zu vergießen. Papst Benedikt hat versucht dies durch die roten Schuhe bewusst zu machen, ein Zeichen, das wie so viele andere missverstanden wurde – leider. Im Glauben geht es um das, wofür ich bereit bin, mein Leben zu geben. Nun mag einer widersprechen und sagen: „Halt, das gilt nur für die Hirten!“ Nein, das stimmt nicht, das ist eine bequeme Ausrede. Die Maßstäbe des Glaubens gelten für alle gleich, das Vergehen der Hirten wiegt schwerer, weil sie mehr Verantwortung tragen, das betont das Neue Testament an mancher Stelle, aber die Regeln, die gelten für alle Glaubenden. Wenn es im Glauben um das geht, wofür ich mein Leben hinzugeben bereit bin, dann kann darüber wohl kaum durch mehrheitlichen Beschluss entschieden werden. Mehrheitsbeschlüsse taugen bei Sachfragen, aber nicht wenn es um diesen innersten Bereich der Person geht.

Oft genug ist die Kirche aber anderes, meist geht es in unseren Gemeinden nicht um das, wofür wir unser Leben geben würden – vielleicht sollte uns das auch einmal zu denken geben. Kirche ist auch eine rechtliche Gemeinschaft, die – zum Bedauern vieler – auch Steuern einzieht, sie ist Trägerin bestimmter Einrichtungen wie Kindergärten oder Sozialstationen, sie ist Arbeitgeberin, von der erwartet wird, dass das Gehalt pünktlich bezahlt wird usw. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die einander beistehen, aber auch Fehler machen, manchmal rücksichtslos sind und anderen schaden. All das wird ja in der Öffentlichkeit ausführlich genug berichtet und thematisiert. All das stimmt auch, aber wenn das alles ist, wenn Kirche für uns nicht mehr ist als das, dann können wir – salopp gesagt – einpacken, dann können wir uns all das sparen. All das ist das Äußere, von dem manches überflüssig, manches schädlich und manches gewiss auch notwendig ist – vor allem als Rahmen für das Eigentliche. Das Eigentliche ist Christus, der für uns sein Leben gegeben hat, damit wir in ihm sind und er in uns. Die Kirche ist eine Gemeinschaft, in der die Beziehung zu Jesus Christus, ja genauer: das In-Christus-Sein gelehrt und gelernt wird. Kann man Beziehung lehren und lernen? Oh ja, jede Familie ist ein Ort, an dem Beziehung gelehrt und gelernt wird – bewusst oder unbewusst. Und nicht wenige Therapeuten verdienen ihr Geld damit, Beziehungsprobleme zu behandeln. Vielleicht ist das sogar ein gutes Bild für die Kirche. „Therapeuein“ heißt auf Deutsch „heilen“. Es geht um die Heilung des Menschen durch die Beziehung mit Jesus Christus. Man anerkennt heute, dass der Patient nicht nur ein zu behandelndes Objekt ist, sondern ein freier Mensch, der in das therapeutische Geschehen einzubeziehen ist, dem man seine Therapie plausibel machen muss, dennoch gilt: Therapie bedeutet nicht, dass die Betroffenen durch Mehrheitsbeschluss entscheiden, welches Medikament sie einnehmen. Wenn die Kirche in ihrem Kern die Gemeinschaft ist, in der der Mensch die Beziehung zu Christus lernt und durch sie geheilt wird, dann kann die Kirche in ihrem Kern niemals einfach Demokratie sein. Wie eine Therapie jedoch nur gelingen kann, wenn der Einzelne aus freien Stücken sozusagen mitzieht, so braucht der Glaube unerlässlich die Freiheit des Einzelnen. Ja, es ist unsere Überzeugung, dass der Glaube diese Freiheit in einem tiefen Sinn überhaupt erst begründet. Vieles an der Kirche betrifft nicht unmittelbar diesen Kern, und deshalb ist es auch gut und sinnvoll, dass vieles demokratisch geregelt werden kann, aber der Kern unseres Glaubens entzieht sich Mehrheitsbeschlüssen. Im Idealfall ist die Kirche weder Demokratie noch Diktatur, sondern die Gemeinschaft derer, die auf Christus hören, der sein Leben für sie gegeben hat.

Über die letzte Wahrheit, über das, wofür ich mein Leben zu geben bereit bin, kann man eben nicht einfach abstimmen. Wenn ich nach einer existentiellen, mein Leben in tiefer Weise berührenden Wahrheit suche, reicht es nicht aus, eine Abstimmung unter Freunden durchzuführen. Gewiss ist ihr Rat ein Fingerzeig, aber nicht die Entscheidung. Tiefe Wahrheiten sind etwas Verletzliches, Empfindliches, sie entziehen sich dem schnellen sachlichen Zugriff z.B. eines Mehrheitsbeschlusses. Tiefe Wahrheiten offenbaren sich nur durch Hoffnung, Geduld und Gebet

Es ist sicher sinnvoll, dass manches in der Kirche demokratisch geregelt ist, aber im Kern ist die Kirche die Gemeinschaft, in der die Beziehung zu Christus, der sein Leben für uns gegeben hat, gelehrt und gelernt wird. In gewissem Sinne ist die Kirche also auch Therapie, Heilung des Menschen durch diese Beziehung. Eine Therapie braucht das freie Ja der Betroffenen, aber sie kann nicht einfach durch Mehrheitsabstimmung festgelegt werden. Tiefe, existentielle Wahrheiten entziehen sich Mehrheitsbeschlüssen, sie offenbaren sich nur durch Geduld, Hoffnung und Gebet.