Es „menschelt“ überall — innerhalb wie außerhalb der Kirche

5. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Apg 9,26-31; Joh 15,1-8)

Es „menschelt“ auch in der Kirche — das ist die höfliche, verständnisvolle Umschreibung für die Erfahrung, dass auch in der Kirche Ideal und Wirklichkeit auseinander klaffen, dass wir als Christen oft genug weit hinter dem Beispiel Jesu zurückbleiben und auch deshalb nicht sehr einladend wirken. Diese Spannung wird auch in der Lesung aus der Apostelgeschichte und dem Evangelium, die wir heute gehört haben, deutlich. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“, mit diesem Bild umschreibt Jesus, was Christentum zuallererst ist: in ihm verwurzelt zu sein, um so seinem Beispiel zu folgen — also Frucht zu bringen. Die Apostelgeschichte holt uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die christliche Gemeinde muss erst überzeugt werden, den Neuzugang Paulus aufzunehmen. Es „menschelt“ halt überall. Wie können wir glaubhaft vermitteln, dass in unserer Mitte das In-Christus-verwurzelt-Sein geschieht — wenn so oft Menschlich-Allzumenschliches im Vordergrund steht, weil wir dem Beispiel Christi nicht folgen?

Meine Erfahrung ist: es „menschelt“ überall, dem kann ich nirgendwo aus dem Weg gehen, nicht innerhalb der Kirche, aber auch nicht außerhalb. Darum ist dieses „Menscheln“ für mich zunächst zwar ganz sicher kein Argument für die Kirche — aber eben auch nicht gegen sie. Ja, das Neue Testament weiß von Anfang an um diese Schwierigkeiten, es gab Nachfolge Christi nie ohne sie. Auch das Bild vom Weinstock und den Rebzweigen enthält eine Andeutung. Der Vater ist der Winzer, der reinigt, der manches abschneidet — offensichtlich ist auch da nicht alles Gold, was glänzt. Und wenn wir auf das konkrete Problem schauen, das dem Paulus da in der Apostelgeschichte begegnet, ist die Reaktion der Gemeinde nicht höchst nachvollziehbar? Paulus war der ehemalige Verfolger, ein Fremder, der eben nicht als Freund galt. Misstrauen und Vorsicht sind in diesem Fall verständlich. Sollten wir uns nicht lieber fragen, wie wir mit Neulingen umgehen? Sind wir als Gemeinden nicht allzu oft geschlossene Gesellschaften mit Stammplätzen und Gewohnheiten, wo sich jeder Fremde auch wirklich fremd fühlen muss?

Schauen wir genauer hin, worin solches Misstrauen oft besteht — zum Beispiel auch bei der christlichen Gemeinde, die an Paulus zweifelt. Gewiss hat Paulus als ehemaliger Verfolger der Christen keinen guten Ruf. Versuchen wir ein wenig tiefer zu gehen. In uns Menschen gibt es eine Sehnsucht nach einem Verwurzelt-Sein, einem letzten Halt, wo ich — um im Bild zu bleiben — meine Nährstoffe, meine Kraft herbekomme. Da wird ein anderer, der auch nach solcher Verwurzelung sucht, schnell zur Bedrohung oder wenigstens zur Anfrage: Hier störst du, hier habe ich schon Wurzeln geschlagen. Als Kirche dürfen wir aber nicht zur geschlossenen Gesellschaft werden, wir müssen diese Erfahrung gewissermaßen umdrehen. Weil wir um diese Sehnsucht des Menschen nach Verwurzelung genau wissen, zeigen wir, dass in Christus sozusagen Platz für alle ist, dass nur das In-ihm-verwurzelt-Sein dem Menschen jenen Halt gibt, den er sucht. Wir leben doch in einer mehr und mehr entwurzelten Gesellschaft, die sich hilflos fragt, wer sie ist und was sie kennzeichnet. Mancher verweist dann auf das christliche Erbe unserer Kultur, auf christliche Werte, die uns verbinden. Das ist ganz sicher nicht falsch, aber es wird nicht reichen. Der christliche Glaube funktioniert nicht als spirituelle Variante unseres Grundgesetzes, sondern nur in der lebendigen Beziehung zu Christus: indem ich in ihm verwurzelt bin.

Ich gebe zu, dass wir so auf ein konkretes Problem geschaut haben — die Frage nach Abgrenzung und Verwurzelt-Sein —, das Grundsätzliche aber noch weitgehend offen bleibt. Dieses „Menscheln“ in der Kirche, die Kluft zwischen unserem Glauben und unserem tatsächlichen Handeln ist oft groß und für Außenstehende wenig anziehend. Wenn in der Kirche wirklich das In-Christus-Sein vermittelt wird — warum merkt man dann so wenig davon, warum sind die Christen sehr oft jedenfalls keine besseren Menschen? Wirkt diese Verbindung mit Christus nicht? Wir sollten solche Anfragen nicht einfach übergehen, sondern auch ernst nehmen und uns eingestehen, dass jeder von uns immer wieder seinen Teil zu solchen Erfahrungen beiträgt. Trotzdem scheint mir in einer solchen Anfrage eine falsche Sicht dieses In-Christus-Seins verborgen zu sein. Wenn man fragt, ob diese Beziehung zu Christus nicht wirkt, klingt das, als würde man das Ganze einfach wie eine medikamentöse Behandlung sehen. In der Kirche nehme ich was ein, und dann bin ich — nach einiger Zeit, kein Medikament wirkt sofort — ein besserer Mensch. So ist es aber nicht. Es geht hier nicht um eine Tablette, die ich schlucken muss, es geht um etwas, das eher einer tiefen Freundschaft als dem Schlucken einer Tablette vergleichbar ist. Gehört es nicht zum Wesen einer solchen tiefen Freundschaft, dass die Wirklichkeit immer ein bisschen hinter dem Ideal zurückbleibt, dass man denkt, eigentlich sollten wir mehr Zeit füreinander haben, sollten einander mehr und besser zuhören. Wenn man meint, ja, das passt alles immer unter allen Umständen so — ist das nicht ein Zeichen, dass eine Freundschaft vielleicht doch eher oberflächlich ist? Ich glaube, es gehört zum Wesen einer wirklich tiefen und guten Freundschaft, dass immer noch ein bisschen Luft nach oben ist. Unser Zurückbleiben hinter dem Ideal der Nachfolge Christi zeigt so in gewisser Weise auch an, dass es bei uns nicht um eine medikamentöse Behandlung geht, nicht einfach um das Befolgen einiger Gesetze, sondern um Freundschaft mit Christus, um das In-ihm-Verwurzelt-Sein.

Es „menschelt“ eben überall — innerhalb wie außerhalb der Kirche. Manches geht auf die Sehnsucht nach Verwurzelt-Sein zurück, die wohl jeder Mensch in sich trägt, und gelegentlich fühlt man sich durch die Suche des anderen bedrängt, aber dies ist in einer mehr und mehr entwurzelten Gesellschaft unsere Chance. Nur Christus ist der letzte Halt, in ihm ist für alle Platz. Das In-ihm-Verwurzelt-Sein ist aber keine Tablette, die ich schlucken kann, sondern viel eher eine tiefe Freundschaft. Und zum Wesen einer solchen Freundschaft gehört es doch, dass man immer noch mehr tun könnte, dass immer noch Luft nach oben ist.