Geschlossene Gesellschaft — geistige Inzucht

7. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Joh 17,6a.11b-19)

Zurzeit findet in Münster der Katholikentag statt, auf dem wieder einmal das gesellschaftliche Engagement der katholischen Kirche in Deutschland diskutiert und gerade auch von Politikern gelobt wird. In dieser Situation wirkt das Evangelium dieses Sonntags besonders herausfordernd, und es wäre wohl ganz interessant, was mancher Bischof hierzu zu sagen hätte. „Die Welt hat sie“ — die Jünger Jesu — „gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin . . . Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch sie in die Welt gesandt“, sagt Jesus. In der Welt, aber nicht von der Welt — so könnte man das Jesus-Wort wohl zusammenfassen. Also doch Entweltlichung, wie Papst Benedikt einst gefordert hat, Abstand zu allem Weltlichen? Was ist gemeint mit jenem „In der Welt, aber nicht von der Welt“?

Zu beachten ist, dass der Begriff „Welt“ beim Evangelisten Johannes zwischen zwei Bedeutungen hin- und herschillert. Einmal kann Welt den Inbegriff dessen, was sich Gott gegenüber abschließt, meinen, anderseits aber auch die Gesamtheit der Schöpfung, der sich Gott zuwendet, wie in jenem Wort, das auch im Johannes-Evangelium steht: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn hingab . . . Beide Bedeutungen spielen in dem Abschnitt, den wir heute gehört haben, eine Rolle, auch wenn die erste, negative sicher im Vordergrund steht. Die Welt hasst die Jünger Jesu, weil sie nicht von der Welt sind. Die Ablehnung derer, die sich aus Überzeugung zum christlichen Glauben bekennen— und noch schlimmer: sogar ganz bewusst zu einer Kirche —, wird in unserem Land immer deutlicher. Warum? Jedes System, jede Gemeinschaft möchte geschlossen und einheitlich sein, so auch die Gesellschaft in unserem Land, das macht alles leichter, klarer und berechenbarer — und so möchten die meisten Menschen ihr Leben haben, gleichgültig was sie behaupten. Immer mehr Menschen haben sich eingerichtet, Naturwissenschaft erklärt die Welt, Arbeit, Wohlstand und Konsum füllen die Zeit aus, alles ist gut. Christlicher Glaube, der einen Anspruch an mich formuliert und Gewohnheiten in Frage stellt, der betont, dass Naturwissenschaft das Wie der Weltentstehung erklärt, aber nicht das Warum — das ist unerwünscht. Jedes System, jede Gemeinschaft neigt dazu, in sich geschlossen und einheitlich zu werden — und eben das ist ihr Untergang. Gewiss, jede Gemeinschaft braucht Identität, also eine Vorstellung davon, was sie ist, aber wenn das bedeutet, sich gegen Herausforderungen abzuschließen, sich nicht hinterfragen zu lassen, dann ist das langfristig das Ende einer solchen Gemeinschaft, weil das — ein bisschen zugespitzt gesagt — zu geistiger Inzucht führt. Die Welt, die Gesellschaft braucht uns, unser Engagement, weil wir sozusagen das Salz in der Suppe sind — aber wir sollten dieses Engagement hinterfragen, inwieweit wir einfach nur Dienstleister sind, oder wirklich als Zeugen des christlichen Glaubens wahrgenommen werden — nichts anderes wollte übrigens Papst Benedikt mit seiner Forderung nach Entweltlichung.

Mir ist durchaus klar, dass dieses Argument auch gegen die Kirche gewendet werden kann. Ist sie nicht auch eine geschlossene Gesellschaft, die sich nicht hinterfragen lässt — und damit dem Untergang geweiht? Wenn sie das wäre, dann wäre sie tatsächlich dem Untergang geweiht, das ist wahr. Ja, die Kirche hat — wie eben jedes System, jede Gemeinschaft — die Neigung, sich nach außen abzuschließen, aber immer wieder gab es Männer und Frauen, die hier neue Anregungen gaben, oft waren es Heilige. Einer davon ist der Mann, mit dem sich meine wissenschaftliche Arbeit befasst: Romano Guardini. Vor ungefähr 100 Jahren war die Neigung der Kirche sich nach außen abzuschließen mehr und mehr offensichtlich, man verlor den Kontakt zur übrigen Gesellschaft. Guardini war einer der Menschen damals, die die Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Denkern wagten und dabei auch eingestanden, dass sie so etwas lernen können, dass der Blick von außen manchmal hilft, die eigene Botschaft genauer zu sehen, sonst droht eben geistige Inzucht. Manchmal sind das gerade auch diejenigen, von denen man das am wenigsten erwartet, die solche hilfreichen Anregungen geben können. Ich glaube, das ist auch ein wichtiger Impuls für das persönliche Leben. Auch da darf ich mich nicht abschließen, sondern brauche — so schwer es fällt, das will ich gern einräumen — die Herausforderung durch andere Meinungen, durch andere Blickwinkel. Und oft ist es so, dass ich gerade von denen, von denen ich es nicht gedacht hätte, etwas lernen kann.

In der Welt, aber nicht von der Welt, diese Spannung, in der der Christ steht, ist eine Bereicherung für die Welt, aber auch für die Kirche. Im Grunde gehört sie zum Menschsein dazu. Lernen wir von einem anderen Blickwinkel: Helmuth Plessner, ein Philosoph des 20. Jahrhunderts, sagte, was den Menschen besonders macht, ist seine exzentrische Positionalität. Man kann es auch ein wenig einfacher ausdrücken: der Mensch hat die Fähigkeit, sich selbst zu betrachten, etwas zu bereuen, sich zu beurteilen — aus christlicher Sicht könnte man es vielleicht auch Gewissenserforschung nennen. Dieses Betrachten meiner selbst setzt Abstand zu mir voraus, gewissermaßen ein Heraustreten aus meiner Welt, sonst kann ich mich nicht in den Blick nehmen. Ich bin in der Welt, aber ich muss auch irgendwie nicht von der Welt sein, um mich selbst in den Blick zu bekommen. Die Spannung „In der Welt, aber nicht von der Welt“ gehört offenbar in gewisser Weise zum Menschsein dazu.

Jedes System, jede Gemeinschaft neigt dazu, in sich geschlossen und einheitlich zu werden — doch eben das ist ihr Untergang. Darum braucht unsere Gesellschaft, die sich mehr und mehr bequem ohne den Glauben eingerichtet hat, unser Zeugnis, unsere Störung, wenn man so sagen will. Doch ebenso — das sei nicht verschwiegen —, braucht auch die Kirche die Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten — auch um die eigene Botschaft besser kennen zu lernen. Letztlich gehört diese Spannung „In der Welt, aber nicht von der Welt“ zum Menschsein dazu, weil es gerade das Kennzeichen des Menschen ist, dass er sich selbst in den Blick nehmen kann, dazu muss er sozusagen aus einer Welt heraustreten. Möge der der Herr uns seinen Geist geben, dass wir wach bleiben und unsere Sendung erfüllen.