Religion ist mehr als nur Gefühls- und Privatsache

30. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 18, 9–14)

Ein Sonntag der Weltmission ist heutzutage aus vielen Gründen schwierig. Ein Grund ist sicher, dass für viele Menschen Religion — wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung hat — Privat- und Gefühlssache ist. Da kann man mit anderen nicht drüber reden. Es hat gar keinen Sinn, für die eigenen Überzeugungen einzutreten oder zu argumentieren, denn jeder „fühlt“ da halt anders. Die Oma ist jetzt ein Stern am Himmel, das darf man alles nicht hinterfragen, denn sonst wirkt es tatsächlich seltsam. Ist die Oma wirklich ein Stern? Es wäre für sie kalt da oben im Weltall, und mit der Zeit wäre es auch ein bisschen voll neben all den anderen „Sternen-Omas und -Opas“. Ist Religion am Ende möglicherweise doch ein bisschen mehr als Privat- und Gefühlssache?

Üblicherweise pflegt man ja voller Häme religiösen Menschen die Neigung zur Selbstgerechtigkeit zu unterstellen. Gewiss ist diese Gefahr da, wie Jesus ja auch im heutigen Evangelium hervorhebt. Sie ist auch naheliegend, denn als religiöser Mensch will ich gut sein in dem, was ich tue. Wenn ich die Zehn Gebote ernst nehme, sind sie nicht immer einfach, umso besser, wenn es mir gelingt nach ihnen zu leben. Und am einfachsten ist es, die eigene Leistung hervorzuheben, indem man andere kleiner macht. Offensichtlich ist das auch beim Pharisäer im Gleichnis Jesu der Fall. Er hat seine Gebote eingehalten, Leistung abgehakt, er ist toll, die anderen nicht. Ist es nicht so, dass sein sogenanntes Gebet eher wie ein Selbstgespräch vor dem Spiegel wirkt? Was bin ich doch toll, der ich mich an so viele Regeln halte! Noch einfacher ist es, wenn Religion Selbstgespräch ist, weil sie ohnehin nur Sache meiner Gefühle ist. Da bin ich immer toll, und wie schnell schaut man auf die herab, „die immer in die Kirche springen“ und eben auch nicht vollkommen sind. Vergleichbares gilt für die zahlreichen Weltanschauungen, die in unserer Zeit kursieren, hier feiert die Selbstgerechtigkeit neue Rekorde. Da schaut der Stadtbewohner, der die U-Bahn nützt, verächtlich auf den herab, der immer noch Auto fährt, auch weil er keine U-Bahn zur Verfügung hat. Selbstgerechtigkeit ist eine Versuchung, die für uns Menschen immer naheliegt — innerhalb wie außerhalb der Religion, das muss eingestanden werden. Doch sie ist — ein bisschen zugespitzt gesagt — beinahe vorprogrammiert, wenn das innere Gegenüber des lebendigen Gottes fehlt, weil meine Religion ohnehin nur Selbstgespräch, nur verschwommene Privat- und Gefühlssache ist oder weil ich überhaupt nicht mehr an Gott glaube und anderen Weltanschauungen anhänge.

Anders eben der Zöllner im Gleichnis Jesu. Er zählt nicht irgendwelche Leistungen vor Gott auf, die er ohnehin nicht hat. Sein Gebet ist echtes Gebet, nicht eher Selbstgespräch wie das scheinbare Gebet des Pharisäers. Er bittet tatsächlich: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Er sucht Gott, will ins Gespräch mit ihm treten und lehrt uns so das Heilmittel gegen Selbstgerechtigkeit: die Suche nach dem lebendigen Gott. Er ist der immer Größere, vor dem ich nichts zu bestellen habe und vor dem meine selbst gebastelte Gerechtigkeit wie eine Seifenblase zerplatzt. Er hat sich um unseretwillen klein gemacht hat. Denken wir an das Bild des Gekreuzigten, das in unseren Kirchen hängt. Schon allein dieses Bild, wenn wir es denn betrachten und ernst nehmen, ist ein Gegenmittel gegen die Selbstgerechtigkeit, die — seien wir ehrlich — für jeden Menschen eine Versuchung bleibt.

Das Gleichnis Jesu lehrt uns eine weitere Schwierigkeit, wenn Religion nur Privat- und Gefühlssache ist. Ist der Pharisäer nun ein Gerechter oder nicht? Nach eigenem Gefühl ist er es ohne Zweifel, vor Gott ist er es nicht. Der Zöllner ist gerecht vor Gott, aber fühlt er es? Das ist der Knackpunkt. Wenn es eng wird, wenn es hart auf hart kommt, geht es in der Religion um Leben und Tod. Dann reichen „gefühlte“ Wirklichkeiten nicht mehr aus. Wenn mein Leben zu Ende geht, dann trösten mich irgendwelche Bilder, dass ich als Stern auf andere herabschaue, nicht. Dann will ich wissen, ob ich an ein Leben nach dem Tod glauben kann — oder eben nicht. In dieser prekären und entscheidenden Situation zeigt sich, dass Religion als Gefühlssache nicht trägt — und damit letztlich auch nicht als Privatsache. Denn wenn Religion mehr ist als persönliche Gefühlssache, dann ruft sie nach Gemeinschaft und Gespräch: Was glaubst du, was leuchtet dir ein, was hilft dir? Dann zeigt sich, dass Religion Gemeinschaft, Gespräch und auch Argumente braucht.

Daher ist auch die gegenseitige Verwiesenheit von Religion und Vernunft zentral, wie sie insbesondere das Christentum in der Theologie entfaltet hat. Jesus selbst argumentiert ja immer wieder, um die Menschen zu überzeugen, so auch — zumindest ein Stück weit — in dem heutigen Gleichnis. Die sprachliche Herkunft des lateinischen Wortes „Religion“ wird verschieden gedeutet, eine häufig zu findende Deutung versteht Religion als Bindung oder Rückbindung, gemeint ist an an Gott oder das Göttliche. Die Vernunft — so könnte man vielleicht auch sagen — ist die Art und Weise, wie wir an die Welt gebunden sind, wie wir versuchen sie zu deuten und zu verstehen. Religion ist in gewissem Sinne auch Bindung an die Welt, aber als Schöpfung Gottes verstanden, eine Bindung in der Zuversicht, dass die Welt trotz allem von Gott gut gewollt ist und von ihm zum Guten geführt wird. Etwas von dieser Zuversicht, ein Fünkchen von dieser Hoffnung braucht die Vernunft auch, wenn sie die Welt wirklich verstehen will, denn Verstehen setzt immer ein Mindestmaß an Sympathie voraus.

Religion als reine Gefühls- und Privatsache trägt also letztlich nicht. Gewiss ist Selbstgerechtigkeit immer eine naheliegende Versuchung für uns Menschen, aber wo Gott als lebendiges Gegenüber abhandenkommt, ist sie — zugespitzt gesagt — beinahe schon vorprogrammiert. Gerade wenn es hart auf hart kommt, zeigt sich, dass es in der Religion letztlich um Wirklichkeit geht und nicht einfach um Gefühle. Gibt es ein Leben nach dem Tod oder nicht? Wo Religion mehr als Gefühl ist, wird sie auch zum Gespräch. Was leuchtet dir ein? Die Vernunft sucht die Welt zu verstehen, doch dabei braucht sie auch Zuversicht, der Glaube gibt die Hoffnung, dass die Welt nicht ins Leere läuft.