Das Leben ist Gottes Geschenk — etwas anderes können wir nicht leben

Allerheiligen (Offb 7, 2-4.9-14; 1 Joh 3, 1–3)

Inflation, Kriegsangst, Energiekrise … es gibt vieles, das unsere Gesellschaft gerade erschüttert. Und nun kommen wir als Kirche mit unserem Festtag „Allerheiligen“, der Erlösung verheißt, nicht von den genannten Krisen, sondern der Glaube verspricht uns, dass der Tod nicht das letzte Wort haben wird. In kraftvoller Bildsprache begegnen uns die Erlösten in der ersten Lesung, die zum Thron Gottes ziehen. Aber sagt uns das noch irgendetwas? Hat diese Verheißung in unserer Gegenwart noch Lebenskraft und Glaubwürdigkeit?

Offensichtlich gibt es in uns eine Sehnsucht nach dem, was endgültig zählt, eine Sehnsucht nach dem Bleibenden, Gültigen und Verlässlichen. Dies zeigt sich auch in der Sehnsucht nach ewiger Liebe, nach verlässlicher Freundschaft. Mir scheint, dass auch der Wunsch nach ständiger Veränderung — wie es ihn vor allem in jungen Jahren gibt — letztlich eine Form dieser Suche ist. Das ist auch ein Grund, warum Krisen uns so erschüttern, denn sie stellen Bleibendes in Frage, sie schaffen Verunsicherung, ob es überhaupt schlechthin Gültiges gibt. Der Glaube sagt uns, dass der Bleibende, ewig Gültige Gott ist, der uns in Jesus begegnet. Er ist Quelle und Vollendung allen Lebens, Heilung all dessen, was die Welt nicht heilen kann. Er ist Vater für uns, das Leben ist sein Geschenk. „Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es“, sagt die zweite Lesung schlicht. Aber ist das auch glaubwürdig? Oder sind es nur so daher gesagte Formeln?

Glauben scheint — so jedenfalls meine Beobachtung — für viele eher eine verschwommene Angelegenheit zu sein. Ja, vielleicht geht es irgendwie nach dem Tod weiter. Vielleicht wird man wiedergeboren oder was auch immer. In diesem Zusammenhang fällt mir das berühmte Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse ein. Bekannt sind vor allem die Zeilen „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, es heißt aber auch darin: „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden“. Mir gefällt dieses Gedicht, aber es lädt auch zu einer Deutung ein, die zu einer solchen verschwommenen Religiosität passt. Wer ruft denn? Das Leben ist doch keine Person, die rufen kann? Der Künstler lässt das offen, das kann Kunst, aber wenn es um mein Leben geht, möchte ich mehr wissen. Niemand kann sich selbst das Leben geben, es kommt ihm zu, wird ihm geschenkt. Wenn es nach dem Tod weitergeht, dann kann dies wohl auch nur sein, indem mir das Leben neu geschenkt wird. Ich kann Leben nun mal nicht selbst ergreifen. Gewiss, mag mancher entgegenhalten, das Leben kommt uns irgendwie zu, vielleicht auch nach dem Tod, wer weiß das schon, aber das kann doch alles auch Zufall sein. Tja, ist das alles nur Zufall, oder sind wir tatsächlich Kinder Gottes und das Leben ist sein Geschenk?

Wie gehen wird denn mit dem Leben um? Manchmal achten wir es, manchmal nicht. Manchmal rebellieren wir gegen unsere Vergangenheit, hadern mit unseren Talenten, manchmal freut man sich daran und macht etwas aus den eigenen Begabungen. Mancher versucht seine Vergangenheit zu verleugnen, ein anderer fügt sich ohne zu murren, und lebt sein Leben in den Bahnen, die ihm durch äußere Gegebenheiten vorgezeichnet scheinen. Manchmal hat das was mit einem Konflikt mit den Eltern zu tun, manchmal nicht. Manchem gelingt es sich mit seinem Leben auszusöhnen, manchem nicht. Klingt das nicht alles nach der Beziehung, die Kinder zu ihren Eltern haben? Rebellion, Abgrenzung, Verleugnung, aber auch Versöhnung, Dankbarkeit und Zuneigung: Gewiss empfinden Menschen all das ihren Eltern gegenüber, aber geht es nicht darüber hinaus? Empfinden Menschen nicht all das auch dem Leben selbst gegenüber? Ich glaube, die Art und Weise, wie wir mit dem Leben ganz allgemein umgehen, erinnert an die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern — im Guten wie im Schlechten, und ist eben deshalb für mich ein deutlicher Hinweis, dass das, was die Heilige Schrift sagt, wahr ist: „Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es.“

Wir leben unser Leben als Kinder eines Größeren, ob es uns bewusst ist oder nicht. Der Glaube sagt uns, dass dieser Größere um unseretwillen Mensch geworden ist und dies konsequent bis in den Tod am Kreuz gelebt hat. Die erste Lesung deutet dies an, indem sie davon spricht, dass die Erlösten ihre Gewänder im Blut des Lammes weiß gewaschen haben. Gott hat sich in Christus selbst engagiert, hat sozusagen an dem Geschenk, das er uns gemacht hat, selbst teilgenommen. Auch diese Erfahrung kann unsere Hoffnung nähren, dass Gottes Geschenk des Lebens größer ist als der Tod und dass er endgültig heilt und vollendet.

Dass wir Leben als etwas Wertvolles betrachten, dass wir von der Unantastbarkeit des Lebens sprechen, dass wir glauben, dass das Leben irgendwie sinnvoll ist, auch wenn wir das manchmal nicht erkennen können — all das verweist doch schon darauf, dass wir das Leben als ein kostbares Geschenk betrachten. Und wenn mancher solche Gedanken zurückweist, dann soll er sich fragen, ob er das wirklich nicht nur in einer Diskussion behaupten, sondern leben kann: Kann ich tatsächlich leben, dass das Leben sinnlos ist, dass es keinen tieferen, nicht von Menschen gemachten Sinn in unserem Leben gibt? Ich kann mir — ehrlich gesagt — kaum vorstellen, dass jemand das ernsthaft leben kann. Eine Gesellschaft kann es jedenfalls nicht. Gewiss gibt die Hoffnung des christlichen Glaubens, die wir heute feiern, keine schnelle Antwort auf die drängenden wirtschaftlichen Probleme, aber sie gibt eine grundsätzlichere Antwort, ohne die wir doch nicht auskommen: dass das Leben kostbar ist, weil es Gottes Geschenk ist.

Rebellion, Abgrenzung, Verleugnung, aber auch Versöhnung, Dankbarkeit und Zuneigung — all das empfinden Menschen nicht nur ihren Eltern gegenüber, sonder auch dem Leben allgemein. Ist das nicht ein Fingerzeig, dass wir tatsächlich Kinder Gottes sind, dass das Leben sein Geschenk ist? Er hat selbst hat in seiner Menschwerdung teilgenommen an diesem Geschenk und gibt uns so die Hoffnung, dass es größer ist als der Tod. Faktisch leben wir doch, dass das Leben wertvoll ist, dass es Sinn hat. Der Glaube gibt uns die Antwort, ohne dir doch nicht auskommen: dass wir Kinder Gottes sind.